I wie Irrsinn

Bei uns im Haus wohnt ein Mann mit zweigeteilter Persönlichkeit. Wenn man ihn morgens oder abends trifft, kann man einen gewöhnlichen Small-Talk mit ihm führen, wenn man sich jedoch länger mit ihm unterhält, stellt man fest, dass er einige unübliche Gedanken im Kopf hat. Zum Beispiel glaubt er fest daran, dass Jesus im Juni 2020 wieder auf die Erde zurückkehrt. Maria Magdalena wäre schon da, er dürfe jedoch nicht verraten wo sie lebt. Und Jesus würde sich in zwei Jahren mit ihr treffen. So verrückt sich diese Gedanken anhören, ich möchte ihnen gern Glauben schenken. Denn einen Mann wie Jesus könnten wir auf der Welt gut gebrauchen. Einen, der Donald Trump, Erdogan und al-Assad zur Vernunft bringt. Einen, der den Menschen wieder ans „Gute“ erinnert und das Wesentliche im Leben.

Meiner Wahrnehmung nach nimmt der Irrsinn (Irr-Sinn!) in der Welt mächtig Fahrt auf.

Zum einen erlebe ich es am eigenen Körper – der will seit einiger Zeit abends immer öfter einfach nur aufs Sofa. Gestern bin ich um 20.30 Uhr vor dem Fernseher eingeschlafen… Dass ich mit dieser Müdigkeit nicht allein bin, erfahre ich täglich in den Gesprächen mit meinen Coachees. Vor dem Sofa einschlafen scheint zu einer allgemeinen Tendenz geworden zu sein.
Oder sich keine Zeit mehr fürs Mittagessen zu nehmen. Das ist doch irr-sinnig, also gar nicht sinnvoll, dass wir Essen mittlerweile als Nebensache, als „to go“ betrachten.
Mails werden nach dem Abendessen weiter beantwortet, weil es einem „ein besseres Gefühl gibt“, das noch geschafft zu haben statt morgens vor 56 unbeantworteten zu sitzen. Ein besseres Gefühl? Früher gingen wir dafür tanzen, ins Kino, im Viertel eine Runde drehen. Sport ist auch nicht mehr eine reine Freizeit oder Fitnessangelegenheit, sondern (zumindest bei den Jüngeren) zu einer exzessiven Abendbeschäftigung geworden. Wenn ich höre, was Menschen abends so treiben, habe ich immer öfter das Gefühl, dass wie am Tag eine Leistung erbracht wird.

Eine Bekannte wurde dieses Jahr von einem auf den anderen Tag schwer krank. Es begann mit einer Mittelohrentzündung, weitete sich zu einer hundsgemeinen starken Grippe aus, die sie über zwei Monate so in Beschlag nahm, dass sie nichts mehr tun konnte außer schlafen, liegen, matt sein.

Als sich ihre Symptome wieder einmal verschlechterten, begab sie sich ins Krankenhaus. Dort stellte man fest, dass die tiefere Ursache ihrer langen Krankheit Stress war. Und zwar nicht beruflicher, nein, Freizeitstress! Im Gegensatz zu den oben erwähnten, die abends oder am Wochenende auch gern auf dem Sofa liegt, hatte sie den inneren Drang besonders viel zu erleben: Kultur, Reisen, Freunde treffen. Ihr ständiges Unterwegssein und nicht Abschalten können schwächte zunächst ihren Geist und anschließend den Körper.

„Burn out ist eine Erkrankung des Gehirns“ habe ich bereits vor vielen Jahren eine Ärztin sagen hören, da das Gehirn die vielen Reize nicht mehr nacheinander verarbeiten könne, überlaste es eines Tages.

Die Zahl der Kund*innen, die schwer erschöpft und niedergeschlagen, bei mir in der Praxis anklopfen, hat im letzten Jahr deutlich zugenommen. Logischerweise sind auch sie es, die sich mittags keine Zeit mehr fürs Essen nehmen und abends noch schnell in die Mails hineinschauen. Wenn ich Pausen vorschlage – ich spreche mittlerweile lediglich von 1-Minuten(!)-Pausen – werde ich milde angelächelt. „Ich versuch’s mal.“ Da bahnt sich ein Irrsinn den Weg in unsere Gesellschaft, das Ausmaß ist immens.

Muße? Wer weiß noch, was das ist?

Ein anderes Beispiel: Vor etwa 5 Jahren leitete ich „Relax your work“ Gruppen, monatliche Treffen für Berufstätige am Abend. Wir vereinbarten für einen Zeitraum von 6 Monaten die Termine und alle erschienen (außer bei Krankheit oder Urlaub) pünktlich zu den Treffen. Seit Januar diesen Jahres biete ich wieder eine solche Abendgruppe an. Bis auf einen Teilnehmer haben alle anderen einen oder zwei Termine im Laufe der Zeit „übersehen, vergessen“. Es sind Menschen, die im Beruf stehen und durchweg strukturiert sind. Und dennoch einen eingetragenen Termin im Kalender nicht wahrnehmen. Ihn morgens noch lesen und abends schon wieder vergessen haben. Hier zeigt sich die Verdichtung, in der wir mittlerweile stehen. Es ist viel zu viel, was wahrgenommen, erledigt werden will oder muss.

Es ist unmöglich alles zu schaffen.

Seit vielen Monaten grübele ich darüber nach, was uns in diesem Irrsinn noch helfen könnte außer den Konzepten, die ich bereits anbiete und selbst praktiziere: Achtsamkeit und Auszeiten, auch am Tag, eine stabile Selbstfürsorge (bedeutet das zu tun, was uns gesund hält, nämlich essen, trinken, Vergnügungen und Sinnerfülltem nachgehen), Herunterschrauben von Ansprüchen und Perfektionismus. Ich komme nicht darauf.

Vielleicht weil das Naheliegenste, nämlich das Natürliche, tatsächlich das beste Gegenmittel zum Irrsinn ist.

Ein gutes Gespräch, ein Sonntag auf dem Land, ein Wochenende mit Freunden oder Familie. Herzlichkeit, Miteinander, sich angenommen fühlen, einfach mal nichts tun außer da sein.

Ganz ehrlich, ich wünsche mir, dass mein Nachbar Recht hat und sich „das Gute“, das Natürliche spätestens in zwei Jahren wieder durchsetzt. Ob in der Wiedergeburt Jesu oder auch anders. Hauptsache es gelingt.